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Soziale Plastik Musik?

von Markus Hechtle

 

"Meine Objekte", sagt Joseph Beuys, "müssen als Anregungen zur Umsetzung der Idee des Plastischen verstanden werden. Sie wollen Gedanken darüber provozieren, was Plastik sein kann und wie das Konzept der Plastik auf die unsichtbaren Substanzen ausgedehnt und von jedem verwendet werden kann:

Gedankenformen – Wie wir unsere Gedanken bilden.

Sprachformen – Wie wir unsere Gedanken in Worte umgestalten.

Soziale Plastik – Wie wir die Welt, in der wir leben, formen und gestalten: 

Plastik ist ein evolutionärer Prozess, jeder Mensch ein Künstler.

Deswegen ist, was ich plastisch gestalte, nicht festgelegt und vollendet. Die Prozesse setzen sich fort: chemische Reaktionen, Gärungsprozesse, Farbverwandlungen, Fäulnis, Austrocknung. Alles wandelt sich."1

 

Ende letzten Jahres fand ich im ICE nach Karlsruhe einige zerknitterte Seiten des Hamburger Abendblatts, die ich aus Langeweile studierte. Darin ein Interview mit Agnes Krumwiede (32), Konzertpianistin und Bundestagsabgeordnete der Grünen aus Neuburg an der Donau:

"Abendblatt: Glauben Sie, dass klassische Musik wichtig ist für die Gesellschaft? Kann sie Menschen verändern?

Krumwiede: Auf jeden Fall. Dafür gibt es viele Beispiele. Neurologen haben wissenschaftlich belegt, dass klassische Musik das Einfühlungsvermögen fördert. Eine sehr wichtige Eigenschaft für das menschliche Miteinander! Außerdem kann man Musik als integratives Element einsetzen. Das zeigt Daniel Barenboim mit seinem West-Eastern Divan Orchestra, in dem er junge israelische und palästinensische Menschen zusammen musizieren lässt. Ein wichtiges politisches Signal von großer Tragweite.

Abendblatt: Trotzdem gibt es Kritiker, die Kultur für ein Luxusgut für Eingeweihte halten.

Krumwiede: Ich begreife Kultur nicht als bloße Förderung von Prestigeprojekten, sondern behaupte, dass sie sehr wichtig ist, um gute Ideen und Fantasie zu entwickeln. In vielen Bildungseinrichtungen wird momentan Wissen gespeichert, um es dann wieder auszuspucken. Das reicht nicht, weil die Herausforderungen, die auf uns zukommen, viel zu komplex sind, dafür braucht man eine Flexibilität im Denken. Deshalb glaube ich, dass Kulturpolitik in Zukunft immer wichtiger wird."2

 

Es ist der Sommer des Jahres 1986, gerade verlässt die kleine Agnes das Gebäude der Musikschule in Neuburg an der Donau in Begleitung ihrer Freundin Birte. Die geflochtenen Zöpfe der Mädchen fliegen im Wind, beide laufen geschwind und beschwingt auf einen am Straßenrand parkenden goldfarbenen Mercedes zu, eine ihrer Muttis holt die Mädchen wie jede Woche vom Musikunterricht ab. Der Unterricht hat die Mädchen einmal mehr begeistert, wie schön die Musik sein kann, lernen sie dort, aber auch wie mühevoll es ist, diese Schönheit herzustellen, sie tatsächlich zu erreichen, und wie viel Disziplin und Fleiß es kostet, das Instrument langsam immer besser zu beherrschen. Und dass es nicht viel hilft, nur allein auf sich selbst konzentriert zu sein, sondern dass man zuhören muss, dass man auf seine Mitspieler zu achten hat, dass man Teil einer Gemeinschaft ist, in der nicht jeder einfach machen kann, was er will, nein, in der sowohl das, was der Komponist in den Noten vorgibt, geduldig gelesen und interpretiert werden, als auch der Mitspieler respektiert und verstanden werden muss.

          ​Agnes lernt nun schon seit vier Jahren Klavier, Birte hat sich ebenfalls schon früh für das Geigenbeispiel begeistern können, ganz wie ihr Vater Helmut, der gemeinsam mit seinen Kollegen regelmäßig im Ärzteorchester des Klinikums musiziert. Hausmusikabende ergänzen das musikalische Leben der Familien aufs Reizendste. Im kommenden Monat werden Agnes und Birte zum ersten Mal gemeinsam auftreten, zunächst Birte mit einer leichten Violinsonate von Georg Joseph Vogler und dann gemeinsam mit Agnes mit einer Bearbeitung von Für Elise für Geige und Klavier, auf deren Darbietung sich die beiden Mädchen ganz besonders freuen.

          Agnes möchte später einmal Tierärztin werden, könnte sich aber auch vorstellen, als berühmte Konzertpianistin die großen Säle der Metropolen zu füllen, während Birte noch nicht so recht weiß, ob sie, wie ihr Vater es sich so innig wünscht, in seine Fußstapfen treten soll. Aber die beiden Mädchen haben ja auch noch Zeit. Was sie sicher wissen und was sie sich ganz fest versprochen haben, ist jedoch, dass sie immer Freundinnen bleiben und noch lange miteinander musizieren werden.

 

Die Pervertierung und Funktionalisierung von Kunst und Musik im Besonderen scheinen in den letzten Jahren einen wahrscheinlich nur vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben. Dass Musik ganz hervorragend sei für die Entwicklung junger Menschen, dass Musik in ihrer gesellschaftlichen Relevanz nicht hoch genug einzuschätzen sei, ist seither gesamtgesellschaftlicher Konsens; kein Sommerfest des Bundespräsidenten ohne musizierende Kinder, keine öffentliche Einweihung kommunaler Bauten ohne blockflötende Grundschüler. Die Förderung von Musik, egal ob es sich um philharmonische Institutionen oder um pädagogische Vermittlungsprojekte handelt, scheint nicht nur den Fortbestand bürgerlicher Tugenden zu garantieren, sondern darüber hinaus auch Charaktereigenschaften zu fördern und zu begünstigen, die dem beruflichen Erfolg ungeahnte Dimensionen verleihen und dadurch der Prosperität der Volkswirtschaft zu neuen Höhenflügen verhelfen können.

          Endgültig vorbei die Zeiten, in denen die Ankündigung des Teenagers, eine Band gründen zu wollen, zu Angstattacken der

bürgerlichen Elternschaft geführt hat. Jetzt dürfen sich Eltern musizierender Kinder über deren Zugewinn an sozialer Kompetenz freuen, über deren spielerisches und automatisches Erlernen gewisser notwendiger Grundregeln  gemeinschaftlichen Zusammenspiels, über den Zuwachs ihrer kommunikativen Fähigkeiten, kurz, über die Stärkung ihrer Identität als zukünftig erfolgreiche soziale Wesen, geboren und geformt aus dem Geiste der Musik.

          Volker Harlan schreibt über seine Begegnungen und Übungen mit Joseph Beuys: "Die Fragen, die mit der Bildung eines sozialen Prozesses zusammenhängen, wurde in einer dritten Übung unmittelbarer Gegenstand der Beobachtung. Wir holten uns von einem Schrottplatz verschieden lange, dickere oder dünnere, hohle oder massive stabförmige, plattenförmige oder blechartige Eisenteile. Wir hatten nicht vor, sie zu irgendeiner Konstruktion zusammenzuschweißen, sondern sie ihrem Klang nach zu verwenden. So führten wir die Eisenstäbe, von zwei Fingern gehalten, stückchenweise empor oder herab, bis wir bemerken konnten, wann sie den besten Klang entwickelten. An dieser Stelle durchbohrten wir sie und hängten sie an Fäden über einem Eisengestell auf. Dann setzten sich vielleicht sechs oder acht von uns rings um die im Karree aufgehängten Eisenstangen, -stäbe und -bleche und begannen die Übung. Sie bestand nun darin, averbal miteinander in Beziehung zu treten, durch Töne zu kommunizieren. Dass die möglichen Klänge atonal waren, ist klar. Die einzige Verabredung, die wir trafen, war, dass wir aufeinander hören wollten, wenn man das Gefühl haben könnte, man habe sich gefunden oder es sei etwas entstanden, was in sich selbst zur Ruhe käme.

          Es entstanden ungeheuer aufregende Prozesse. Zunächst einmal begab sich jeder in das entstehende Tongebilde ganz

konstitutionell hinein, das heißt ohne zu fragen, ob etwas Gemeinsames entstehen wollte und worin es bestehen könnte; also ohne Blick auf ein zu gestaltendes Werk machte jeder erst einmal seine eigenen Erfahrungen. Er machte sich mit dem vorhandenen Material vertraut. In dieser Phase war wenig Rücksichtnahme auf das wahrzunehmen, was die anderen derweil produzierten. Nach dieser Phase der Materialerfahrung kam zunächst mehr zum Ausdruck, was der einzelne an konstitutionellen Eigenschaften mitbringt, ob er zart blieb und mehr lauschte, ob er draufhieb und an dem Selbsterzeugten sich berauschte, ob er zu führen begann oder ob er einem anderen getreulich folgte und mit ihm korrespondierte. Daran musste er bemerken, dass die Korrespondenz mit einem der anderen Mitspieler schnell möglich war, dass dabei aber die anderen außer acht gerieten. Nun, man kann sich denken, auf wie vielfältige Weise hier ein Musikalisches entstand. Ein besonderes Problem entstand zum Beispiel dadurch, dass einer der Mitwirkenden es ungeheuer schwer hatte, überhaupt wahrzunehmen, was die anderen taten, bzw. dass sie sich längst gefunden hatten und dass eine musikalische soziale Situation entstanden war, in der man hätte aufhören wollen. Er bemerkte es nicht. Wie konnte man ihn jetzt dazu bewegen einzustimmen, ohne Blicke, Gesten oder Worte zu verwenden? Es gelang nicht. Schließlich resignierten einzelne und hörten auf zu spielen, bis nur noch er alleine spielte und das auch schließlich irgendwann bemerkte und einfach aufhörte. So wurden starke Erlebnisse des naiven Verhaltens möglich."3

 

Einschub, Notiz, Frage: Bisher war ausschließlich von Musikern die Rede, die sich in sozialen Situationen finden und üben, von ausführenden Musikern, von Instrumentalisten, von Spielern. Wie verhält es sich aber mit dem Komponisten? Ist er aus Sicht der Gesellschaft nicht folgerichtig die asoziale Ausnahme, der egomanische Sonder- und Sündenfall unter den Musikern? Einsam am Schreibtisch erfindet er Musik, die er mit mehr oder weniger bekannten Zeichen codiert. Sein Adressat und Leser ist zunächst der sozialkompetente Musiker, an ihn richten sich seine Nachrichten aus der Isolation zuerst, auf ihn ist der Komponist angewiesen.

          Der Komponist als asozialer, hochneurotischer Künstler, der im stillen Kämmerlein Noten ordnet und Musikern befiehlt, was seine kranke Phantasie ihm in die Feder diktiert?

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Volker Harlan fährt fort: "Alle Fragen des sozialen Verhaltens ließen sich an unseren Erfahrungen aufzeigen. Gleichzeitig trat natürlich auch mit aller Deutlichkeit die Frage auf: Wann ist das Entstandene zufrieden stellend, gut, und aus welchem Grunde? Tritt Befriedigung ein, wenn in der Fülle der Eisenklänge schließlich doch ein Dreiklang hörbar wird, den man zu genießen beginnt? Setzt sich ein faszinierender Rhythmus durch, in den schließlich alle einstimmen, mit dem aber die anderen Qualitäten des Musikalischen, Klang und Melodie, außer acht geraten und der aus sich heraus nie zu einem Ende kommen könnte? Wenn der Rhythmus, der aus dem vitalen Willen kommt, wenn das Melodische, das mehr einen individualisierenden Charakter hat, und wenn der Reichtum des Klangs in dynamischer Spannung erschienen, wenn alle drei Elemente, nicht eines das andere dominierend, sondern alle drei miteinander harmonierten – ohne auf barocke Harmonien zurückzugreifen – miteinander wirkten, dann entstand eine sich reich modulierende Klangfigur in einem sozialen Prozess, in dem nicht mehr einer dem anderen sich unterordnete, sondern in dem alle gemeinsam auf das jetzt ihnen Erscheinende lauschten. In diesem gemeinsamen Lauschen und Tun, in dieser gemeinsamen Frage nach dem, was jetzt, in diesem Augenblick möglich werden kann und will, entstand die größte Befriedigung."4

          Man könnte meinen, dass die jungen Leute, die sich wie Volker Harlan in den 70er Jahren um Joseph Beuys sammelten, um

gemeinsam neue Erfahrungen zu machen, sich einerseits diametral von der musizierenden Jugend, von der oben die Rede war, unterschieden, weil sie im Glauben an eine Erweiterung des bürgerlichen Kunstbegriffs zu Werke gingen und die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse dabei bestimmt das Letzte war, das in ihrer Absicht lag. Andererseits aber, nämlich aus heutiger Perspektive und gemessen an der Logik der Instrumentalisierung und Funktionalisierung von Musik, hätten sie so mühelos zu Erfüllungsgehilfen bürgerlicher Erwartungen, zu Musterschülern der allgegenwärtigen Wachstumsbeschleuniger und Gesellschaftsbereiniger werden können.

          Widerspruch, Aufruhr, Einspruch und Verweigerung sind Begriffe, die in Volker Harlans geradezu idyllisch anmutender Beschreibung keinen Platz finden. Vielmehr scheinen ihn die Erfahrungen der sozialen, gruppendynamischen Prozesse sogar dazu zu verleiten, Äquivalente in der musikalischen Struktur zu suchen, nach denen musikalischer Zusammenhang geordnet, geregelt und bewertet werden kann, um sein Funktionieren zu gewährleisten.

          Die Gefahr, dass diese Suche nach, wie ich sie nennen will, syntaktischen Beziehungen von der Erfahrung und Beobachtung über die Ableitung des Beobachteten zu seiner Verallgemeinerung und schließlich zur Erstellung eines Regelkodex führt, scheint gefährlich groß zu sein. Insbesondere die scheinbare Verwandtschaft musikalischer Strukturen mit Strukturen natürlicher oder formaler Sprachen lässt die Übertragung des Syntaxbegriffs auf musikalische Zusammenhänge auch für viele ernst zu nehmende Wissenschaftler und Theoretiker nahe liegend erscheinen. Meine Skepsis demgegenüber ist allerdings groß, im Weiteren sei daher ausführlicher davon die Rede.

 

"Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel, und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde, und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen."5

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​​​​Acaban de escuchar un fragmento del teatro musical Max Black de Heiner Goebbels interpretado por el actor André Wilms. Un pasaje de "On Certainty" - en español "Sobre la certeza" - de Ludwig Wittgenstein, que escribió poco antes de su muerte. Creer, dudar, saber son términos fundamentales en los escritos de Wittgenstein. Mis conocimientos sobre Wittgenstein se reducen prácticamente a este texto. Lo habré escuchado trescientas catorce veces, y tambien hoy, después de haberlo oído trescientas quince veces no puedo decir haberlo entendido realmente. De todos modos me gusta volver a escucharlo una y otra vez. Al contrario de los esfuerzos por intentar transferir el termino sintaxis a otros contextos fuera del lenguaje. Mis dudas ante esos experimentos son tan grandes, que no puedo creer en su éxito. Aun en el caso de que en ciertos aspectos esta trasferencia pudiera tener alguna validez, dudo sobre su valor; ya que creo, que la sola esperanza sobre un conocimiento sintáctico preciso en el arte, puede tener consecuencias fatales para el artista.7 

 

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​Quand on ne parle pas une langue, que l’on ne maîtrise ni ses mots ni sa syntaxe, on ne peut pas la comprendre; cela signifie que l’on ne sait pas ce qu’elle veut dire. Alors si on ne sait pas ce qu’elle veut dire, on peut l’écouter d’une manière différente, d’une manière par laquelle on ne pourrait jamais écouter sa propre langue, ni les langues étrangères que l’on maîtrise. A l’étranger, assis dans un café et écoutant les conversations des voisins sans comprendre le moindre mot, peut donc devenir une expérience formidable. Cette langue devient alors seulement une expérience acoustique, une expérience musicale.9

 

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Hören wir diese Musik gleich noch einmal:

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Das ist doch Musik? Denn was hat es noch mit Sprache zu tun, wenn wir nicht die leiseste Ahnung haben, wovon hier die Rede sein könnte? Sicher, wir erkennen es als Sprache, aber könnte es sich nicht auch um eine Phantasiesprache handeln? Um Lautfolgen, die ich mir ausgedacht und mit Hilfe eines Freundes aufgenommen hätte? Selbst wenn meine erfundenen Lautfolgen so gestaltet wären, dass sie nicht nur aus wahllos und zufällig gereihten Lauten bestünden, sondern bestimmten Regeln und Gesetzen folgen würden, die ich offen legen und die man dann als Grammatik und Syntax bezeichnen könnte, so gäbe es immer noch nichts zu verstehen. Es wäre also immer noch Musik im eigentlichen Sinne. Denn Musik bedeutet nichts. Zunächst. Wohingegen Sprache etwas bedeutet. Zuerst.

 

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Trotzdem, so könnte man entgegnen, lässt sich Struktur erkennen, vor allem in der Diktion, in der besonderen Art, wie der Sprechende die Stimme hebt und abphrasiert. Natürlich. Aber gibt es überhaupt irgendetwas, das uns keine Struktur erkennen lässt, dem unsere Wahrnehmung keine Struktur verleiht?

          Wenn jeder Zusammenhang, jede Struktur mit dem Begriff der Syntax gefasst werden sollen, dann wird der Begriff schnell beliebig und belanglos. Das Beobachtete könnte ja auch einfach nur als Ordnung oder Anordnung von singulären Erscheinungen beschrieben werden. Nein, wer den Begriff der Syntax ins Spiel bringt, der will mehr. Denn eines ist dem Begriff der Syntax wesentlich: Der Zusammenhang, den er beschreibt, muss wiederholt zu beobachten sein, muss in größerem Maßstab Gültigkeit beweisen.

          Meine Skepsis gegenüber der Übertragung des Syntaxbegriffs auf Musik oder auf andere Kunstformen ist enorm und ich glaube nicht, dass diese Übertragung eine angemessene Form der Auseinandersetzung mit Kunst ist, insbesondere nicht für den Künstler. Und doch möchte ich die Diskussion um die Zulässigkeit dieser Übertragung ausdrücklich nicht führen, sondern mich hypothetisch auf die Vorstellung einlassen, es gäbe für die Künste, also auch für die, die an Musiktheater beteiligt sein können, tatsächlich eine gültige Syntax.

          Was wäre gewonnen, wenn ein Künstler tatsächlich Auskunft über seine Syntax erteilen könnte? Kommen wir der Sache näher, wenn ein Schriftsteller uns über die syntaktischen Regeln seiner Sprache informiert? Wären wir näher an Faust, Tod in Venedig oder Homo Faber, würden uns Goethe, Mann und Frisch über die Syntax der deutschen Sprache aufklären?

          "Das meint doch der Syntaxbegriff in der Übertragung gar nicht", könnte man entgegnen, "natürlich geht es nicht um diese simple Bedeutung, sondern vielmehr um Syntax als Begriff, der übergeordnete Entscheidungsstrukturen, z.B. in dramaturgischer Hinsicht, im Bezug auf die Entwicklung der Figuren, hinsichtlich des Verhältnisses der Teile zum Ganzen beschreibt und erklärt. Also wie sich ein Schriftsteller gegenüber einem Spannungsbogen, dem Gang der Geschichte verhält, wie und warum ein Schriftsteller in unterschiedlichsten Situationen reagiert, was ihn zu einer Art der Folgerichtigkeit seiner Gestaltung zwingt." 

          Aber wenn ein Künstler in diesem Sinne tatsächlich präzise Auskunft über seine Syntax erteilen könnte, was ich für vollkommen ausgeschlossen halte (und wenn er es könnte und tun würde, sogar für ausgesprochen dämlich), dann würde er berechenbar werden, würde zum Erfüllungsgehilfen seiner eigenen Muster, Gesetze und Regeln verkommen. Denn der Rückschluss, der der Sehnsucht nach Syntaxauskunft innewohnt, lautet: Wenn ich syntaktische Strukturen im Nachhinein, also am Ergebnis eines künstlerischen Prozesses, feststellen und formulieren kann, kann ich auch im Vorhinein verlässliche Informationen über den Ausgang der nächsten Entscheidungssituation gewinnen. Genau diese Hoffnung spüre ich, wenn von syntaktischen Beziehungen die Rede ist, ich spüre die Sehnsucht, durch präzisiertes Wissen über die syntaktischen Regeln der Anderen, Aufschluss über den Fortgang der gemeinsamen Arbeit zu gewinnen. Ich halte diese Haltung für hochproblematisch, weil sie dazu tendiert, Kunstbildung über die Bildung von Theorien, Regeln und Gesetzen für möglich zu halten. Nach dem Motto: Wenn man nur präzise genug wüsste, nach welchen Mustern und Implikationen künstlerische Entscheidungen gefällt werden, könnte man entsprechende Steuerungsmethoden entwickeln.

          Lesen wir noch einmal, was Joseph Beuys zum Begriff der sozialen Plastik sagt: "Plastik ist ein evolutionärer Prozess, jeder Mensch ein Künstler. Deswegen ist, was ich plastisch gestalte, nicht festgelegt und vollendet. Die Prozesse setzen sich fort: chemische Reaktionen, Gärungsprozesse, Farbverwandlungen, Fäulnis, Austrocknung. Alles wandelt sich."13

          Ich bin überzeugt, dass die Methode – wenn man künstlerische Arbeit überhaupt mit diesem Wort in Verbindung bringen will – in einem so komplexen Verhältnis zu dem steht, was sie hervorbringt, dass dieses Verhältnis schlichtweg niemals präzise gefasst, sondern allenfalls ins Bild gesetzt werden kann. Vielleicht so, wie Yong-Shil Park, einer der interessantesten Komponisten Südkoreas, es auf poetische Weise getan hat:

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Das bedeutet: Die Methode ist so weit vom Klang entfernt wie ein Falke vom Himmel.15

          Es ist oft die Rede davon, dass im Musiktheater, in dem verschiedene Künste ihre Kräfte auf ein gemeinsames Projekt bündeln, der Erfolg umso größer sei, je früher die Beteiligten sich zusammentun und desto besser sie die Gesetzmäßigkeiten der anderen Künste verstehen lernen. Ich halte das für einen Trugschluss. Und offen gestanden: Ich interessiere mich nicht besonders für die Probleme der Regisseure. Und ich will auch gar nicht so genau wissen, welche Zipperlein die Schauspieler plagen, welche Gruppendynamik gerade welche Öffnungen verhindert und welche Verkrampfungen fördert. Ich weiß um die ungeheure Körperbezogenheit der Sänger, aber bitte, belästigt mich nicht zu oft damit! Ich will auch nicht viel wissen von den Problemen der Bühnenbildner, wo und warum welcher Raum nicht spricht, wo Tiefe fehlt oder Geraden sich treffen, warum Lichtstimmungen nicht kombinierbar sind oder Klischees bedienen.

          Ich will sie gar nicht kennen, die vermeintliche Syntax der Anderen, schließlich kenne ich meine eigene schon nicht! Nein, ich möchte überrascht werden, konfrontiert, beschenkt, korrigiert und vielleicht auch kompromittiert werden durch die Phantasie der Anderen. Denn obwohl ich die Syntax der Anderen nicht kenne, kann ich deren Kunst sehr wohl verstehen, fühlen und empfinden. Und das ist das Entscheidende und auch der entscheidende Unterschied zur Sprache!

          Es gibt Regisseure, die zur ersten Leseprobe nicht einmal das Buch kennen, weil sie ganz der Figurenführung, dem dramatischen Konflikt verpflichtet sind, der zwischen Schauspielern ohnehin immer entsteht und spätestens beim Zusammentreffen der Gruppe offenbar wird, ganz unabhängig von interpretatorischen Kunstgriffen. Es gibt Kostümbildner, die ausschließlich an Schnitt, Faltenwurf und Farbgebungen interessiert sind. Es gibt Bühnenbildner, die sich nicht im Mindesten um Inhalte kümmern, die nur in Bildern denken, in Lichtstimmungen handeln, deren Phantasie sich einzig und allein am Visuellen entzündet. Und alle, Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner, Musiker, Komponisten, Dramaturgen und Techniker werden ganz sicher nicht in dem Maße bessere Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner, Musiker, Komponisten, Dramaturgen und Techniker werden, in dem sie sich für die Syntax der anderen interessieren oder in der Lage sind, ihre eigenen syntaktischen Muster darzulegen. Da gibt es keinen Zusammenhang. Und deshalb hilft es nicht viel, sich ihre Syntax erläutern lassen zu wollen. Es hilft nur, sich wachsam ihre Arbeiten anzusehen oder anzuhören, Antennen zu entwickeln für das Andere der Anderen. Und wenn dann der Dialog, den ich keinesfalls für unnötig halte, einsetzt, dann kann es aufschlussreicher sein, wie jemand von seiner Arbeit berichtet, wohin er im Gespräch die Augen lenkt, was er eher beiläufig zu erzählen hat, oder ob er noch einen zweiten Espresso trinkt.

          Begreifen und Verstehen finden oft über Bilder und Metaphern statt, die dann aber umso gravierendere Spuren hinterlassen können. Ich habe z.B. lange das Strukturverständnis von Helmut Lachenmann missverstanden, bis ich ihn einmal von einer Probe zu Das Mädchen mit den Schwefelhölzern berichten hörte.

 

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Es gibt eine Regel, deren Beachtung ich außerdem für wesentlich wichtiger halte, als syntaktische Strukturen zu diskutieren: Arbeite nur mit Künstlern zusammen, die Du für interessant und potent hältst! Das klingt nach Binsenweisheit, ist aber im Theater oder im Konzertbetrieb oft nur schwer zu realisieren. Und die künstlerische Potenz kann nicht aus dem, was jemand über seine Arbeit berichtet, abgeleitet werden – wir alle kennen die zum Teil haarsträubende Diskrepanz zwischen vielversprechenden Programmtexten, selbstbewussten Interviews, stringenten Proklamationen und den dann oft kümmerlichen Ergebnissen zur Genüge –, sondern auf künstlerische Potenz kann ausschießlich aus den Arbeiten selbst geschlossen werden. Ganz zu schweigen von den vielen anderen Kriterien, die bei der Wahl der Arbeitspartner eine Rolle spielen. Ich persönlich versuche es z.B. zu vermeiden, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die weder trinken, noch rauchen und sich nur vegetarisch ernähren. 

 

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Die Methode ist so weit vom Klang entfernt wie ein Falke vom Himmel.

          Jetzt, wo Sie die Bedeutung dieses Satzes kennen, haben Sie gewissermaßen Ihre Unschuld ihm gegenüber eingebüßt, können ihn nicht mehr nur als musikalisches Ereignis hören. Sie haben Bedeutung gewonnen und Geheimnis verloren. So hat sich die Situation innerhalb kürzester Zeit dramatisch verändert, umgekehrt zu der Situation, von der die Geschichte berichtet, die ich eingangs bereits erzählte: "Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel, und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde, und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen."18

          Seither irren wir über die Erde, können nicht in ausreichendem Maße kommunizieren, sind voneinander und von Gott getrennt. Was Gott jetzt wohl sähe, würde er einen Blick riskieren? 

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Yong-Shil Park sagt: "Wenn man von der Spitze eines Hochhauses nach unten schaut, sieht man viele Menschen, die mit verschiedenen Zielen, verschiedenen Gedanken und mit verschiedenen Geschwindigkeiten hin- und hergehen. Es gibt keine Ordnung, die den Einzelnen übergreift. Aber die Einzelnen haben eigene, voneinander unabhängige Ordnungen."20

          Mir ist bei der Arbeit an diesem Vortrag zum ersten Mal bewusst geworden, dass es sich bei der Geschichte vom Turmbau zu Babel um eine Art Parallelgeschichte zur Vertreibung aus dem Paradies handelt. Im Durst nach Erkenntnis überschreitet der Mensch seine Grenzen und wird von Gott in die Schranken verwiesen. Der Sündenfall manifestiert sich in der Hybris des Menschen und beschert uns seitdem all das, was beständig an unserer Existenz nagt.

 

Der Vorhang öffnet sich. Auf der Bühne ein Mann und eine Frau.

Er: Ich liebe Dich.

Sie: Ich kann Dich nicht lieben.

Er: Dann muss ich sterben.

 

Bei einem Symposium, zu dem ich vor Jahren eingeladen war, wurde dieser Dialog als Beispiel einer allzu simplen dramatischen Situation zitiert. Was für ein Missverständnis! Dieser kleine Dialog ist keineswegs simpel, dieser Dialog beschreibt eine der fundamentalsten Erfahrungen des menschlichen Lebens: Die dramatische Situation der abgewiesenen oder unmöglichen Liebe. Sie liegt Millionen von Stoffen, Büchern, Musiken, Tänzen und Gesängen zu Grunde. Die unerfüllte Liebe, die in diesem Dialog sogar zum Tode führt, ist deshalb absolut keine simple Situation, sondern genau das Gegenteil: Sie ist eine der kompliziertesten, schmerzlichsten, tiefsten Verlusterfahrungen des Menschen. Sie ist die proto- oder archetypische Erfahrung der menschlichen Existenz schlechthin!

          Der Titel des Symposiums, von dem ich oben berichtete, lautete Das Ungelöste des Musiktheaters. Und jedes Mal, wenn ich diesen Titel las, stolperte ich und las stattdessen meist Das Unerlöste des Musiktheaters. Und immer noch kann und will ich diesen Titel nicht in erster Linie als Frage nach dem derzeitigen Stand von Oper und Musiktheater und deren Probleme im Zusammenspiel der beteiligten Künste und Künstler begreifen, sondern als tiefergehende, weiterreichende, grundlegendere Fragestellung. Denn neben vielen weniger interessanten Arbeiten gibt es ja durchaus wunderbare Lösungen im Musiktheater, geglückte Versuche, magische Momente, bewegende Erfahrungen.

          Lösungen kommen und gehen, das Unerlöste aber bleibt. Immer. Jedenfalls mit größter Wahrscheinlichkeit, denn es ist die verlässlichste Konstante in unserem Leben. Das Unerlöste der menschlichen Existenz ist es vermutlich auch, das seit abertausenden von Jahren die unterschiedlichsten und bizarrsten Kunstformen hervorbringt, das seit Menschengedenken die Menschen zur Kunst zu zwingen scheint und in unserem spezifischen Fall die Komponisten ins Theater führt und das Theater nach Musik rufen lässt.

 

Er: Ich liebe Dich.

Sie: Ich kann Dich nicht lieben.

Er: Dann muss ich sterben.

 

Das Ungelöste des Musiktheaters zeigt sich möglicherweise nur symptomatisch in den Problemen der beteiligten Künstler und Kunstformen, das Unerlöste aber ist seine Ursache, sein Motor, sein Herz, der Schrittmacher für Kunst überhaupt. Es gibt nichts zu lösen, so lange wir unerlöst sind. Und da es nichts zu lösen gibt, gibt es nur zu tun. Das ist die einfache und brutale Wahrheit.

          Auch das Publikum, so glaube ich, betritt Opernhäuser und Theatersäle nicht mit der Hoffnung, Lösungen vorzufinden. Immer sind ee dramatische Situationen, die uns auf der Bühne begegnen und bewegen, Situationen, die den Menschen betreffen und deshalb die Menschen treffen. Eine Bühnensituation, die etwa nur durch Maschinen oder abstraktes Formenspiel bestritten wird, verführt uns entweder zur Bildung von Metaphern, Analogien und Verweisen auf menschliche Beziehungszusammenhänge, oder langweilt uns zu Tode.

 

Zum Ende möchte ich erneut ein Bild aus Religion und Theologie zu Rate ziehen. Eugen Drewermann, Theologe und Psychotherapeut, unternimmt den eindrucksvollen Versuch, die jahwistische Urgeschichte, aus der die Geschichte vom Turmbau zu Babel stammt, unter psychoanalytischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Dabei zieht er Parallelen zum Freudschen Neurosenmodell: "Aber wie in der Neurose das Streben nach Autarkie nur ärmer, das Streben nach Unabhängigkeit nur abhängiger, das Verlangen nach Größe nur armseliger macht, so scheitern die Menschen immer wieder, von Stufe zu Stufe; und in immer neuen Ringen kreisen sie um den einen traumatischen Punkt: um den Verlust Gottes, den sie ersetzen möchten und der doch nicht zu ersetzen ist."21 Drewermann macht deutlich, "dass es eine Rettung aus diesem Teufelskreis von innen her, aus eigenen Kräften nicht gibt. Denn jeder Lösungsversuch kann nur in die falsche Richtung streben und führt nur weiter in die sich selbst einmauernde Isolation, und aller Fleiß und alle Mühe führen nur dazu, die Gefängnismauern um das eigene Ich zu verfestigen."22

          Ich kann mich diesem Gedankengang vollkommen anschließen, kann leider aber nicht die Konsequenzen ziehen, die Drewermann als einzige Möglichkeit von Heilung aufzeigt, nämlich die Re-Ligio, die Rückbindung und Zuwendung zu Gott. Für Künstler, die, wie ich, diesen Schritt nicht mehr, nicht, oder noch nicht machen können, hat deshalb Kunst immer sowohl eine neurotische als auch eine religiöse Konnotation, obwohl wir genau wissen, dass Erlösung durch Kunst nur vorübergehend, illusorisch, utopisch sich vollziehen kann. Dieser Widerspruch hält die Arbeit am köcheln. Und so empfinde ich Musiktheater als große Chance. Für Komponisten, die ohnehin gefährdet sind, am Schreibtisch vor Einsamkeit zu verhungern, ist es die Chance, auf andere Künstler zu stoßen, die der eigenen Arbeit gegenübertreten, sich ihr gegenüber verhalten. Es ist auch die Chance, Musik aus ihrem zunächst bedeutungsfreien Raum ins Semantische zu führen, es ist die Chance, mit Hilfe der Anderen und deren Phantasie sowohl dem näher zu kommen, was mich bewegt, als auch von ihnen bewegt zu werden.

          Natürlich kann das alles gründlich in die Hose gehen und dennoch stirbt die Hoffnung nie, das Nichtsagbare vielleicht doch irgendwie zeigen, es wenigstens für einen Augenblick auf der Bühne erscheinen lassen zu können. Und genau hier, an diesem Punkt, wird dann manchmal möglicherweise die Utopie der Sozialen Plastik Musik, der Sozialen Plastik Musiktheater Wirklichkeit. Eben als "evolutionärer Prozess, ... nicht festgelegt und vollendet. ... Die Prozesse setzen sich fort: ... Alles wandelt sich."23

          Die praktischen Probleme des Musiktheaters, die in der Zusammenarbeit unterschiedlichster Kunstformen immer entstehen, sind dabei eigentlich sekundär, sie werden nie dauerhaft gelöst werden. Nicht durch die Durchdringung ihrer syntaktischen Strukturen, wie ich anfangs zu erläutern versuchte, und auch nicht durch Kontrollsucht und Größenwahn, für die insbesondere wir Komponisten anfällig zu sein scheinen.

          Die Sehnsucht nach Erlösung und das Wissen um deren Unmöglichkeit gebären den utopischen Raum, in dem Musiktheater spielt. Ein wunderbarer Raum, in dem wenigstens für kurze Zeit manchmal dann doch alles möglich zu werden scheint. Oder gar zu werden droht?

 

Ror Wolf berichtet von einem bemerkenswerten Fall, "der sich in der Nähe des Meeres zutrug, in Gambas Theater. Wir sprechen also von Gambas Theater, oder mehr noch von Gamba. ... Gamba ist nicht nur ein sehr bedeutender Maler, sondern zugleich ein vortrefflicher Musiker, der seine Stücke persönlich anfertigt und die Kulissen eigenhändig entwirft. Da er daneben über ein großes Verwandlungstalent verfügt, verkörpert er sämtliche Rollen, Herren und Damen; er tritt in vielen Verkleidungen auf, die er mit größtem Geschick geschneidert hat. Es muss darauf hingewiesen werden, dass er die Bühne, auf der seine Stücke spielen, gezimmert, die Stühle im Zuschauerraum getischlert und über das Ganze, denn er ist auch ein sehr bedeutender Architekt, ein gewaltig gewölbtes Theatergebäude errichtet hat: Gambas Theater. Dass er dabei im Orchester sitzt, als Platzanweiser erscheint und nach der Aufführung den zurückgebliebenen Unrat entfernt, muss nicht erwähnt werden. Damit sind fast alle Schwierigkeiten, die den Untergang vieler Theater auslösen, behoben, bevor sie begonnen haben. Die Kritiken verfasst Gamba selbst. Und ohne Ausnahme ist er auch sein eigenes Publikum. Er füllt sein Haus bis auf den letzten vorhandenen Platz und applaudiert unermüdlich, mit großer Entschlossenheit, bis sich der Vorhang senkt, den er am Ende herablässt. ... Die Zuschauer, das ist der erste Gedanke, bleiben zunächst im Ungewissen. Wichtig ist die Vermeidung der Deklamation. Gamba hält die Gebärden für ebenso entbehrlich, wie das gesprochene oder gesungene Wort. Als Musiker hält er Musik ohnehin für vermeidbar. Wo sie nicht unbedingt sein muss, sagt er, gehört sie nicht hin. Und in Gambas Theater muss sie nicht unbedingt sein. Auch die Vielzahl von Stühlen ist überflüssig; ein einziger Stuhl genügt und selbst auf diesen könnte man möglicherweise verzichten. Licht allerdings muss sein, vor allem das ausgelöschte Licht. Gambas Stücke spielen in äußerster Dunkelheit, in der Stille, der Einsamkeit, in der Fremde. Und nichts wäre störender als das Publikum. Gamba geht es dabei nicht um das, was man hört, es geht ihm um das, was man nicht hört. Gespräche verletzen das Ohr, sagt Gamba, Gesänge erst recht. Nichts erscheint ihm widersinniger, als das Verfahren, Worte, Geräusche, Personen oder Kostüme auf eine Bühne zu bringen; das würde nach Gambas Ansicht nur die Entwicklung der wirklichen Handlung zerstören, und ohne Handlung geht es natürlich nicht. Die Handlung ist die vollkommene Dunkelheit, und trotz der Einfachheit dieser Handlung ist der erzielte Effekt bedeutend. Das Werk mit dem Titel GAMBAS THEATER spielt in der Mitte von Schull, auf einer unbeleuchteten Straße. In der Dunkelheit sitzt kein Mensch. Noch ist der Mond nicht erschienen. Die Sonne dagegen ist schon verschwunden. Die Farbe der Erde ist kalt. Das Bild ist mit schwarzem Kummer gefüllt. Gamba hat kürzlich in einer beachteten Rede vor der Gesellschaft der Bühnenfreunde gesprochen: Meine verehrten Damen und Herren, rief er am Schluss, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit."24

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1 Volker Harlan, Was ist Kunst? – Werkstattgespräch mit Beuys, Stuttgart, 2001, S. 13.

2 Hamburger Abendblatt vom 10.12.2009.

3 Volker Harlan, Was ist Kunst? – Werkstattgespräch mit Beuys, Stuttgart, 2001, S. 10 ff.

4 Ebd.

5 Genesis 11, 1+3-8, Der Turm von Babel, in: Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg im Breisgau, 2000.

6 Ludwig Wittgenstein, On Certainty, 1951, Nr. 150, 413, 414; Ausschnitt aus dem Musiktheater Max Black von Heiner Goebbels mit dem Schauspieler André Wilms, 1998.

7 In deutscher Übersetzung: Sie hörten einen Ausschnitt aus dem Musiktheater Max Black von Heiner Goebbels mit dem Schauspieler André Wilms und einer Textpassage aus On Certainty - auf Deutsch: Über Gewißheit - von Ludwig Wittgenstein, das er kurz vor seinem Tod schrieb. Glauben, Zweifeln, Wissen sind fundamentale Begriffe in Wittgensteins Schriften. Meine Wittgenstein-Kenntnisse beschränken sich allerdings im wesentlichen auf diese Textpassage. Ich habe sie bestimmt schon 314-Mal gehört und auch heute, beim 315. Mal, kann ich nicht behaupten, sie wirklich verstanden zu haben. Trotzdem höre ich sie immer wieder gerne. Ganz im Gegensatz zu den Bemühungen, den Begriff der Syntax auf andere, außersprachliche Zusammenhänge zu übertragen. Meine Zweifel an diesen Versuchen sind so groß, dass ich nicht an ihren Erfolg glauben kann. Und selbst wenn diese Übertragung in Aspekten Gültigkeit besitzen sollte, zweifle ich an ihrem Wert, denn ich glaube, dass schon die Hoffnung auf präzises syntaktisches Wissen in der Kunst für den Künstler fatale Folgen haben kann.

8 Yong-Shil Park, aus einem Interview mit Markus Hechtle, 1995, unveröffentlicht. 

In deutscher Übersetzung: Wenn man von der Spitze eines Hochhauses nach unten schaut, sieht man viele Menschen, die mit verschiedenen Zielen, verschiedenen Gedanken und und mit verschiedenen Geschwindigkeiten hin- und hergehen. Es gibt keine Ordnung, die den Einzelnen übergreift. Aber die Einzelnen haben eigene, voneinander unabhängige Ordnungen. Ich glaube nicht, daß Musik eine einzelne und klare Vorstellung ausdrücken kann. Einfacher gesagt: Die Kunst ist das Ereignis einer Ordnung, die auf schöpferische Weise erzeugt worden ist. Natürlich kann diese Ordnung starr oder beweglich sein. Der Zustand des Chaos entsteht durch die Summe der einzelnen Ordnungen. Die Ordnung oder die Klarheit, die wir suchen, könnte eine Utopie sein. Durch Verwirrung ist Bewegung entstanden. Durch den Prozess des Verstehens entsteht Verwirrung. Wie dieser Prozess ist meine musikalische Idee und Methode ebenfalls nicht auf klare Weise formulierbar. Die Methode ist so weit vom Klang entfernt wie ein Falke vom Himmel. 

9 In deutscher Übersetzung: Wenn wir eine Sprache, ihre Worte und ihre Syntax nicht kennen und beherrschen, können wir sie nicht verstehen, d.h. wir können nicht wissen, was sie bedeutet. Aber wenn wir nicht wissen, was sie bedeutet, können wir ihr auf eine Weise zuhören, wie wir unserer eigenen, oder den Sprachen, die wir als Fremdsprachen beherrschen, niemals werden zuhören können. Im Ausland in einem Café zu sitzen und die Gespräche der Nachbarn zu belauschen, ohne ihre Bedeutung zu kennen, kann deshalb ein großartiges Erlebnis sein. Sprache wird dann zu einer rein akustischen, einer musikalischen Erfahrung.

10 Yong-Shil Park, aus einem Interview mit Markus Hechtle, 1995, unveröffentlicht.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Volker Harlan, Was ist Kunst? – Werkstattgespräch mit Beuys, Stuttgart, 2001, S. 13.

14 Yong-Shil Park, aus einem Interview mit Markus Hechtle, 1995, unveröffentlicht.

15 Ebd., ins Deutsche übersetzt von Yunseck Lee.

16 Helmut Lachenmann bei einer Podiumsdiskussion über Musiktheater in Karlsruhe, 1997, aus: Markus Hechtle, Rainer Lorenz, Jörg Mainka, Das Phantom: die Oper, Radiosendung, DeutschlandRadio Berlin, 1998.

17 Yong-Shil Park, aus einem Interview mit Markus Hechtle, 1995, unveröffentlicht.

18 Genesis 11, 1+3-8, Der Turm von Babel, in: Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg im Breisgau, 2000.

19 Yong-Shil Park, aus einem Interview mit Markus Hechtle, 1995, unveröffentlicht.

20 Ebd., ins Deutsche übersetzt von Yunseck Lee.

21 Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, Teil 2, Paderborn, 1988, S. 583.

22 Ebd., S. 584.

23 Volker Harlan, Was ist Kunst? – Werkstattgespräch mit Beuys, Stuttgart, 2001, S. 13. 

24 Ror Wolf, Gambas Theater, in: Nachrichten aus der bewohnten Welt, Frankfurt am Main, 1991, S. 133-135.

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