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Muss ich alles dreimal sagen?

von Markus Hechtle

​Nicht selten lohnt es sich, über das, was andere uns nahelegen – ob erbeten oder aufgedrängt –, nachzudenken:

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Was veranlasst oder gar nötigt Mephistopheles zu diesem Imperativ? Und müsste er ihn nicht ebenfalls dreimal sagen, um dem Paradox zu entgehen? Oder ist genau dies der entscheidende Hinweis, dass es sich vielmehr um eine Art magische, ja, neurotische Formel handeln muss, die ihm den Zugang ermöglichen soll? Aber warum ausgerechnet drei- und nicht zwei- oder 139-mal?

          Gewieften Musiktheoretiker*innen werden möglicherweise die satzähnlichen Merkmale dieser Wiederholungen aufgefallen sein, auch wenn sie noch so kurz sind: 

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Denn nicht sind es stumpfe Wiederholungen Desselben, vielmehr handelt es sich um variierte, also um, ich zitiere, ”offenkundig genau das Gegenteil von mechanischer Wiederholung: nämlich sprechende, keuchende, den selbstverständlich flüssigen Ablauf umprägende Steigerung“, wie Joachim Kaiser das vorgebliche Prinzip des >Du musst es dreimal sagen< im ersten Satz von Beethovens Sonate op. 2 Nr. 1 beschreibt, um wenig später zu konstatieren, dass ”diese Trinität […] höchste Erregtheit und Dringlichkeit zu bedeuten“3 scheint.

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Ein Gestaltungsprinzip, das uns nicht nur aus der Musik bekannt ist und manch langweilige Lebenslage zu versüßen weiß:

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Auch hier lohnt zur Verdeutlichung der Vorgänge die Extraktion der entscheidenden Momente:

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Und noch deutlicher wird das Gestaltungsprinzip durch die Isolierung der variierten Bestellungen:

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Aber jede Behauptung verdient ihren Einspruch und vielen von uns wird der Gegenentwurf zum mephistophelischen Imperativ noch entfernt in den Ohren klingeln, ist er doch einer der prominentesten Sprüche, mit dem wir als Kinder malträtiert wurden. Ich habe deshalb meine 86-jährige Mutter gebeten, diesen Spruch, den sie nun seit über vier Jahrzehnten nicht mehr benutzen musste, für diesen Vortrag noch einmal zu wiederholen:

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Nicht nur die Eltern jedoch, die wir in oder ab einem bestimmten Alter immerhin mühelos zu ignorieren wussten, raten von unnötiger Wiederholung ab, auch respektable Kollegen vom Fach lassen sich zu ähnlich lautenden Empfehlungen hinreissen:

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Die einen sagen so, die anderen sagen so – und wir finden uns inmitten einer Situation, die uns Komponist*innen sehr vertraut ist, sehen uns mit Fragen konfrontiert, die uns immer wieder aufs Neue beschäftigen und auf die wir immer wieder aufs Neue nur vorübergehend Antworten zu geben wissen.

          Die Wiederholung, eigentlich müssten wir Wiiiieder-Holung sagen, liegt wie viele andere kompositorische Mittel und Instrumente immer auf unserem Komponiertisch bereit. Und einige der zentralsten Fragen bei ihrer Verwendung lautet: Was wird wiederholt, wie wird es wiederholt und wann wird es wiederholt. Der Beantwortung dieser Fragen liegen jedoch zunächst andere Entscheidungen zugrunde, etwa, ob eine musikalische Gestalt, Figur, Form – also das, was wir in diesem Moment für musikfähig halten oder erklären – zu einer anderen musikalischen Gestalt, Figur, Form sich gleich, ähnlich oder verschieden verhält. Die Einordnung in die Kategorien >gleich, ähnlich, verschieden<, die in der Musik eine so große Rolle zu spielen scheinen, fällt allerdings nur auf den ersten Blick leicht. Je nach Perspektive und Abstand, je nach Fragestellung, wird es immer schwerer und widersprüchlicher sie vorzunehmen, bis plötzlich eine Einteilung überhaupt nicht mehr möglich und alles gleich, alles ähnlich oder alles verschieden zu sein scheint.

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Hin- und hergeworfen im Meer der Möglichkeiten sind wir Komponist*innen dennoch immer gezwungen, Entscheidungen zu treffen, am besten mutige und entschlossene dann, ahnend oder in diesem Moment zumindest sicher wissend, es handle sich um die richtigen, die besten zu diesem Zeitpunkt, in diesem Stück und in diesem Kontext, getroffen mit expressiver Kompetenz, kühlem Kopf oder rasendem Verstand. Die Verantwortung können wir jedenfalls nicht auslagern, nicht delegieren, nicht aussetzen, niemals, auch nicht durch Begründung und Ableitung durch oder von etwas, auch wenn manche dies mit Erfolg behaupten und nicht wenige es glauben.

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Schwindel ist dabei nicht selten unser verlässlichster Begleiter. Er tritt meist janusköpfig auf, als Schwindel, der uns ergreift, und als Schwindel, den wir begehen. Und nicht selten ergreift uns der Schwindel, wenn wir fürchten, ihn zu begehen. Dem Schwindelnden traut man nicht, noch schlimmer aber ist, wenn es uns schwer fällt, uns selbst zu trauen, weil wir uns insgeheim des Schwindelns verdächtigen. Wird der Schwindel skaliert, nimmt er in seiner Selbstgewissheit zu, blüht das Akademische, dem wir – meist selbst Akademiker*innen – mit Verachtung begegnen – vor dessen Anbildung wir dennoch nicht gefeit sind. Denn auch der ständige Verweis auf das Nichtgesichertwissenkönnen als unsere conditio sine qua non gerät schnell zur lächerlichen Attitüde. Und das naive Genie gegen die intelligente Künstlerin oder den intelligenten Künstler auszuspielen, verkennt: Wer viel weiß, muss als Künstler*in viel vergessen können – und wer als Künstler*in nichts weiß, ist ohnehin nicht handlungsfähig.

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Wie das Leben, ist auch die Musik ein Vorgang in der Zeit. Leben und Musik bewegen sich beide vektoriell, blicken beide unaufhaltsam nach vorne. Beide kennen den Stillstand nicht, können ihn nur simulieren. Auch eine Zen-Meditation, deren Fokus allein der Gegenwart gilt, beginnt früher als sie endet, oder endet später als sie begann. Ein Rückschritt ist unmöglich, nur durch Wiederholung vorzutäuschen. Allen Wiederholungen, jeder Reprise, jeder Wiederkehr haftet daher die Melancholie des Widerstands gegen die Vergänglichkeit, gegen den Tod an. Und doch ist diesem Widerstand die Vergeblichkeit seiner Bemühung bereits eingeschrieben. 

 

Javier Marias formuliert in seinem Roman Mein Herz so weiß:

우리에게 일어나는 모든 일 중에서 기록되지 않거나, 더 나쁘게는 알지도, 보지도, 듣지도 못한 일은 나중에 다시 찾을 방법이 없다는 점이 가장 안타깝다.13

Es lo malo que tiene cuanto nos sucede y no es registrado, o aún peor, ni siquiera sabido ni visto ni oído, porque luego no hay forma de recuperarlo.14

 

C'est ce qu'il y a de mal dans tout ce qui nous arrive et qui n'est pas enregistré, ou pire encore, qui n'est même pas su, vu ou entendu, car ensuite il n'y a aucun moyen de le récupérer.15

 

This is the problem with everything that happens to us and isn’t recorded, or worse, isn’t even known, seen, or heard, because later there’s no way to recover it.16

 

Des isch halt des Schlechdeschde an allem, des uns passiere tut und net uffgezeichnet wird, oder noch schlimmer, des nettemol g’wusst, g’sehe oder g’hört wird, denn späder gibt’s kei Chance mehr, es nochemol zurückzuhole, gell!?17

Das ist das Schlechte an allem, was uns widerfährt und nicht aufgezeichnet wird oder, schlimmer noch, nicht einmal gewußt, gesehen und gehört wird, denn später gibt es keine Möglichkeit, es zurückzugewinnen. An dem Tag, an dem wir nicht zusammen waren, werden wir für alle Zeit nicht zusammen gewesen sein, was man uns am Telefon sagen wollte, als man uns anrief und wir nicht abnahmen, wird niemals gesagt werden, nicht dasselbe und auch nicht mit demselben Empfinden; alles wird ein wenig anders oder völlig anders sein aufgrund unseres Mangels an Mut, der uns davon abhielt, [...] zu sprechen. Aber selbst wenn wir an jenem Tag zusammen waren oder uns zu Hause befanden, als man uns anrief, oder die Furcht überwanden und das Risiko vergaßen und wagten [...], zu sprechen, selbst dann wird nichts von dem sich wiederholen, und deshalb wird ein Moment kommen, da es auf dasselbe hinausläuft, ob man zusammen gewesen ist oder nicht, ob man das Telefon abgenommen hat oder nicht, ob wir gewagt haben, [...] zu sprechen, oder ob wir geschwiegen haben.18

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, München 1986, S. 52, 1530-1535, Will Quadflieg und Gustaf Gründgens, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 1960

2 Ebd.

3 Joachim Kaiser, Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten, Frankfurt 1979, S. 44f.

4 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, München 1986, S. 52, 1530-1535, Will Quadflieg und Gustaf Gründgens, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 1960

5 Dieter Hallervorden und Gerhard Wollner in NONSTOP NONSENS,  ARD 1977

6 Ebd.

7 Ebd.

8 Katharina Hechtle am 19.10.2024

9 Helmut Lachenmann zu Gast an der Hochschule für Musik Karlsruhe am 29.10.2015

10 Markus Hechtle, Linie mit Schraffur, Ernesto Molinari und Aleph Gitarrenquartett, SWR 2007

11 Markus Hechtle, Vertigo – vor dem Fall, Ensemble Modern, Leitung: Lucas Vis, WDR 2007

12 Markus Hechtle, Stille Post, Ensemble Modern, Leitung: Ingo Metzmacher, hr 2020

13 Javier Marias, Mein Herz so weiss, Stuttgart 1996, S. 39 - 41, ins Koreanische übersetzt von Jieun Choi

14 Javier Marias, Corazón tan blanco, Barcelona 1996, S. 35 - 37

15 Javier Marias, Mein Herz so weiss, Stuttgart 1996, S. 39 - 41, ins Französische übersetzt von Markus Hechtle

16 Ebd., ins Englische übersetzt von Markus Hechtle

17 Ebd., ins Badische übersetzt von Markus Hechtle

18 Javier Marias, Mein Herz so weiss, Stuttgart 1996, S. 39 - 41

19 Markus Hechtle, Still also wieder, Dietrich Henschel, Bariton, und Jan Philip Schulze, Klavier, 2023

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