Zwiesprache mit Wolfgang Rihm
von Markus Hechtle
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Vier Monate sind nun vergangen, seit Du starbst, lieber Wolfgang, und die Präsenz Deiner Abwesenheit scheint von Tag zu Tag stärker zu werden, schwerer zu wiegen.
Die Präsenz Deiner Abwesenheit ist ähnlich der Präsenz Deiner Anwesenheit. Das Verhuschte, das Scheue, das sich im Hintergrund Herumschleichende waren Dir immer fremd. Wenn Du Räume betratst, warst Du da, für jede und jeden sicht- und spürbar, eben anwesend. Wäre dies nicht die Gedenkfeier für Dich, lieber Wolfgang, sondern ein Konzert mit Uraufführungen unserer Studierenden, Du säßest hier in der ersten Reihe, so wie Du es meist getan hast. Nicht aber, weil Du dachtest, die erste Reihe sei der angemessene Ort für einen wie Dich, sondern weil Du immer ganz vorne dabei sein wolltest, ganz dicht am Geschehen, ganz nah am Leben, am lebendigen Tun. Denn das war Dein Metier, das war Deine Welt: Das Lebendige, das Organische, das Nervige, das Wache. Noch wenige Wochen vor Deinem Tod glaubtest Du manchmal – so jedenfalls hat mir Deine liebe Frau Verena berichtet – nach dem Rasieren wieder loslegen, aufstehen, an den Schreibtisch zurückkehren und mit der Arbeit beginnen zu können. Allein, die Kraft hat gefehlt, es ging nicht mehr, es wollte nicht mehr gehen.
”Ich verlange in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, dann ist’s gut.“ sagt Jakob Lenz in Georg Büchners Erzählung und ”um Verständnis ringend“ in Deiner gleichnamigen Kammeroper, die Du in jungen Jahren komponiertest und die sofort zu einem Meilenstein Deines enormen Erfolgs wurde. Trotzdem wusstest Du von Anfang an und bis zuletzt, dass Erfolg keine Kategorie der Kunst ist. Wie Du auch wusstest, dass es in der Kunst weder Nachfolge noch Nachahmung geben kann, weshalb auch Du nicht zum Vorbild taugst. In der Kunst gibt es nur das Ich und das Du, das Du und das Ich, eben weil die Verantwortung für das, was wir tun, nur bei uns selbst liegen, niemals ausgelagert werden kann. Aber in dieser Hinsicht kannst Du uns dann doch Vorbild sein, und was für eines! Denn Du warst immer gerne ich – also Du. Du warst gerne Wolfgang Rihm mit allen Vor- und Nachteilen, mit allem, was Wolfgang Rihm ist, war, sein konnte und wollte. Dein Mut zum Ich-Sein und Ich-Sagen, er darf uns ermutigen, es Dir gleich zu tun, Mut zur Ich-Werdung, Vertrauen ins Ich-Sein zu gewinnen.
Wer viel Erfolg hat, hat meist auch viele Kritiker, da warst Du keine Ausnahme, lieber Wolfgang. Mit wachsendem Ruhm wurdest Du gerne als Staatskomponist bezeichnet, worüber Du herzlich lachen konntest, aber nicht – so jedenfalls mein Eindruck – weil Du diese Kritik aus erhabener Position an Dir abperlen ließest, sondern weil Du wusstest, dass sie einfach nicht stimmt. Denn es gab zwei Seiten Deiner Persönlichkeit, die dem fundamental widersprachen. Unsere Kanzlerin Daniela Schneider würde die eine vielleicht als die Schalkhafte bezeichnen, unser Kollege Thomas Seedorf die andere vielleicht als die Subversive. Beide sind eng miteinander verwandt. Während Erstere im Wissen um das Menschliche eben dieses mit Humor zu nehmen versteht, um dadurch nicht selten einen schärferen und gelasseneren Blick auf das Leben und die Kunst zu ermöglichen, ist die Subversive durch ihre tief wurzelnde Freiheitsliebe DIE Gegenspielerin des gesicherten Wissens, der Gewissheiten. Und Gewissheiten schleichen sich schnell ein, insbesondere dann, wenn Erfolg Recht zu geben scheint oder das Umfeld sie erwartet, wie es besonders an Musikhochschulen nicht selten der Fall ist. Als Mutter des Akademischen ist die Gewissheit der schlimmste Feind der Kunst. Denn als Künstler*innen können, ja, dürfen wir nicht grundsätzlich wissen, was richtig oder falsch ist, um es dennoch immer wieder ganz genau wissen zu müssen, aber eben vorübergehend nur, im Moment der Entscheidung, im Augenblick der Tat.
”Ich verlange in Allem – Leben, Möglichkeit des Daseins.“ – Dein Dasein, lieber Wolfgang, ist nun in einer Möglichkeit zu Ende gegangen. Ob Deine Musik ein Dasein in anderer Möglichkeit bedeutet? Wir wissen es nicht. Ob sie dauerhaft im Sieb der Geschichte verfangen wird? Auch das wissen wir nicht. Aber wir können ganz sicher sagen, dass wir uns weiter von ihr berühren und bewegen, betören und verstören, anregen und abstoßen lassen wollen, dass wir sie weiterhin verstehen und missverstehen, lieben und kritisieren werden, dass wir Deiner Musik weiterhin wach und lebendig begegnen wollen.
Lieber Wolfgang, zu Deinem fünfzigsten Geburtstag schrieb ich: ”Wolfgang Rihm wird 50!? – Na und?“.
Zwanzig Jahre später zum Siebzigsten schrieb ich: ”Wolfgang Rihm wird 70!? – Wie schön!“ ​
Und nun, lieber Wolfgang? Wolfgang Rihm ist tot!? – Wie schade!